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Das Schwörhaus

Das Schwörhaus auf dem Ulmer Weinhof

Was ist ein Schwörhaus?

Wenn Ulmer dies gefragt werden, dann werden sie erklären, dass dies das Haus ist, auf dessen Balkon der Oberbürgermeister jedes Jahr am Schwörmontag im Rahmen der Schwörfeier der Bürgerschaft Rechenschaft ablegt und anschließend schwört, Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein, so wahr ihm Gott helfe.


Diese Antwort wird jemanden, der mit den Ulmer Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist, ebenso ratlos lassen wie der Begriff „Schwörhaus“: Warum muss der Ulmer Oberbürgermeister jedes Jahr dasselbe schwören, zumal man unterstellen darf, dass er zum Amtsantritt einen Diensteid abgelegt hat? Und wenn man ihm dennoch nicht trauen will: Wozu braucht man dann für diesen Akt, der gerade mal eine knappe Stunde im Jahr beansprucht, ein ganzes Haus? Warum kann er das nicht vom Rathaus aus tun, das schließlich auch einen Balkon hat?

Diese Fragen führen uns mitten hinein in die Ulmer Verfassungsgeschichte und – über Ulm hinausgreifend – in die mittelalterlichen Rechtsbräuche. Und die sind geprägt von Eidgenossenschaften, von Schwurgemeinschaften, denen das Beschwören gegenseitiger Loyalität als Mittel diente, Friede und Ordnung in Stadt und Land zu sichern.

Wie notwendig das war, zeigt das Beispiel Ulm, wo – wie in manchen anderen Städten auch – im 14. Jahrhundert die wirtschaftlich erstarkten Zünfte gegen den Widerstand des herrschenden Patriziats ihren Anteil an der Macht im Gemeinwesen forderten. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, aus denen – erstmals 1345 – die Zünfte siegreich hervorgingen. Die gegnerischen Parteien schlossen Frieden, den sie feierlich beschworen.

Die neuen Machtverhältnisse wurden festgeschrieben in der Stadtverfassung, dem „Kleinen Schwörbrief“, den die neu gewählte Stadtobrigkeit alljährlich beeidete. Diese jedes Jahr obligate Neuwahl erklärt den Jahresturnus des Schwörtages, an welchem seit 1345 Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft sich in einem feierlichen Akt gegenseitigen Beistand und Treue schworen. Dennoch kam es 1396 erneut zu schweren Konflikten, in denen die Zünfte erneut siegten. Davon zeugt die im Großen Schwörbrief von 1397 formulierte Verfassung, die ihnen eine nunmehr unanfechtbare Vormachtstellung sicherte.

Den gemeinsamen gegenseitigen Schwur von Stadtregierung und Bürgerschaft – allerdings eingegrenzt auf die volljährigen Männer – gab es auch in vielen anderen Reichsstädten. Er wurde unter freiem Himmel vollzogen, meist vor einem wichtigen Gebäude wie dem Spital der Dominikaner in Esslingen, dem Franziskanerkloster in Reutlingen oder dem Königsbronner Hof in Schwäbisch Gmünd.

Historische Zeichnung des Ulmer Schwörhauses mit einer Menschenansammlung davor.

Radierung von Rudolf Ellenrieder aus dem Jahr 1823 nach einem Bild von Jonas Arnold, um 1650

In Ulm fand diese Zeremonie auf dem Weinhof statt, wo – noch aus Zeiten der Pfalz – ein alter hoher Wehrturm stand, der „Luginsland“. An diesen angebaut war ein kleiner, zweigeschossiger Vorbau, auf dessen oberer Arkade während des Schwöraktes der Bürgermeister, sein Ratsschreiber und die Repräsentanten der Obrigkeit Aufstellung bezogen. Diese eher putzige Immobilie hieß „das Schwörhäuslein“.
Warum schworen die Ulmer ausgerechnet hier, wo es doch zu dieser Zeit mit Sicherheit genügend repräsentativere Gebäude gab?

Der Weinhof ist der älteste Kern der Stadt, und das war den Bewohnern auch schon damals bekannt, wie man aus einer Beschreibung der Stadt Ulm weiß, die der Dominikanermönch Felix Fabri im Jahr 1488/89 geschrieben hat. Auf dem Weinhof befand sich die seit 854 nachgewiesene Pfalz. Die mächtige, über zehn Meter hohe Quadermauer, die seit der Stauferzeit das Pfalzareal zur Blau hin schützte und zugleich die Westwand der jüngeren Pfalzkapelle bildete, dominiert heute das Gewölbe des Schwörhauses und illustriert in der dortigen Dauerausstellung des Hauses der Stadtgeschichte die Anfänge Ulms.

Nördlich an den Weinhof grenzte ein patrizisches Anwesen, das „Königshof“ genannt wurde und wo einst die Bürger dem König huldigten. Dieser Königshof war der Schauplatz einer blutigen Sage, in der die Erinnerung an die Ständekämpfe des 14. Jahrhunderts nachwirkte: Hier sollen 1311 auf Geheiß des Bürgermeisters sämtliche Zunftmeister in einen Hinterhalt gelockt und ermordet worden sein.
Auf dem Weinhof –früher auch nur „Hof“ genannt – lag also das alte Herrschaftszentrum, wo schon immer wichtige Verträge geschlossen worden waren: Bereits 1255 ist der Hof („curia“) als Ort einer Vertragsunterzeichnung genannt. Ist das der Grund, warum die Ulmer an diesem Platz für den jährlichen Eid auf ihre geschriebene Verfassung festhielten?

Diese Frage kann niemand mehr beantworten. Fest steht nur: Die Ulmer haben ihren Schwörakt auch dann weiterhin auf dem Weinhof gefeiert, als der Huldigungsakt für den König 1473 vom benachbarten „Königshof“ auf Rathaus und Marktplatz verlegt wurde. Und auch, als der Luginsland samt Schwörhäuslein wegen Baufälligkeit 1612 abgebrochen wurde, verlegten sie nicht etwa den Schwörakt, sondern bauten eigens dafür ein repräsentatives Schwörhaus – das einzige, das jemals als solches nicht erst nachträglich bezeichnet, sondern eigens errichtet wurde.

Das ist insofern besonders bemerkenswert, als der Schwörakt seinen ursprünglichen Sinn eines Bündnisses zweier einst verfeindeter Parteien unter Führung der siegreichen Zünfte damals längst verloren hatte. Denn Kaiser Karl V. hatte die Zünfte 1548 entmachtet, hatte die Zunftverfassung des Großen Schwörbriefs und damit auch den Schwörtag abgeschafft. Nur auf anhaltendes Bitten erhielten die Ulmer zehn Jahre später erneut einen Schwörbrief und ihren Schwörtag mit allen damit verbundenen Festlichkeiten zurück – aber unter umgekehrten politischen Vorzeichen: Jetzt hatten die Patrizier die unumschränkte Macht, und beim Schwörakt schwor die Bevölkerung von nun an, ihrer Obrigkeit zu gehorchen.

Doch das störte offenbar niemanden besonders, denn längst war der Schwörtag zu einem Nationalfest mit allen damit verbundenen Lustbarkeiten geworden. Und der Schwörakt war nur noch für diejenigen von Bedeutung, die dabei in den vorderen Reihen glänzen durften. Der Rest der Bevölkerung langweilte sich und fiel auf durch ungebührliches Benehmen. Dennoch ließ die Stadt an die Stelle, wo die ehemalige Pfalzkapelle – nach der Reformation ein Weinstadel – und der Luginsland gestanden hatten, einen mächtigen Bau errichten, dessen Arkaden im ersten Stock so viel Raum boten, dass sich dort die wichtigsten Mitglieder der städtischen Führungselite präsentieren konnten. Das Schwörhaus diente also in erster Linie als Repräsentationsbau, der die Souveränität der Reichsstadt eindrucksvoll zu Schau stellte – und der überdies den hohen Herren am Ulmer Nationalfeiertag als Plattform der Eitelkeiten zur Verfügung stand.

Freilich stand das Schwörhaus nie leer. Seine Dachgauben verraten, dass auf den Fruchtböden das Korn der Reichsstadt gelagert war. Und die hohen Fenster des Gewölbes im Erdgeschoss deuten auf dessen ursprüngliche Funktion als Waffenarsenal hin, dessen Bestände vor allzu neugierigen Blicken geschützt sein sollten. Später zog hier ein Weinlager ein; schließlich fand auf dem Weinhof, wie sein Name sagt, seit alters der Weinmarkt statt. Ferner beherbergte das Schwörhaus neben einigen Amtsstuben auch einen Konzertsaal sowie die Stadtbibliothek.

Von der konnten immerhin zwei Drittel gerettet werden, als bei einem Großbrand am 15. Oktober 1785 auch das Schwörhaus in Flammen aufging. Nach seinem Wiederaufbau, der ihm anstatt des Renaissance- einen neuen Barockgiebel bescherte, waren seine Tage als Schauplatz des jährlichen Bürgereides jedoch gezählt. Mit dem Ende der Reichsstadt 1802 war auch deren Verfassung und somit der Schwörakt hinfällig. Und der Balkon, auf dem sich die reichsunmittelbare Stadtregierung alljährlich hatte feiern lassen, wurde von den neuen bayerischen Herren 1805 abgebrochen. Sie vernichteten damit ein Symbol der alten Reichsstadt.

Das Schwörhaus diente fürderhin allen möglichen amtlichen Zwecken, unter anderem, nachdem Ulm 1810 württembergisch geworden war, dem königlichen Gerichtshof für den Donaukreis. Nach dem Bau des Justizpalastes an der Olgastraße zogen 1908 Stadtarchiv und -bibliothek in das dafür nach Westen verlängerte Schwörhaus, und auch die Frauen-Arbeitsschule kam dort unter. Die Stadt, mittlerweile wieder Besitzer, ließ 1910 den Balkon erneuern und die Fassade in den folgenden Jahren historisierend bemalen.

Die ganze Pracht ging unter in der Bombennacht des 17. Dezember 1944, in der das Schwörhaus ausbrannte. Noch stand der Ostgiebel, doch ein Jahr später stürzte er ein. Doch aus der Zerstörung konnte ein erheblicher Erkenntnisgewinn gezogen werden, indem nämlich vor dem Wiederaufbau der Ruine ihr Boden archäologisch untersucht wurde. Dabei traten die Grundmauern der Vorgängerbauten zu Tage: der älteren, 1134 zerstörten Pfalzkapelle sowie der jüngeren Heiligkreuzkapelle und des Wehtrurms „Luginsland“ bis hin zu alamannischen Siedlungsspuren aus dem 7. Jahrhundert – erste greifbare Spuren aus der bis dahin nur archivalisch nachgewiesenen Frühzeit Ulms.

Eingeweiht wurde das wiederhergestellte Schwörhaus am Montag, dem 2. August 1954 – einem Schwörmontag. Der damalige Oberbürgermeister Theodor Pfizer hatte es verstanden, die alte Ulmer Schwörtradition nach dem Krieg wiederzubeleben, wenn auch in etwas veränderter Form. Die Schwörfeier dient seither dem Stadtoberhaupt dazu, vor der auf dem Weinhof versammelten Bürgerschaft Rechenschaft über das vergangene Jahr abzulegen und sein weiteres Programm vorzustellen. Traditionell ist nur der Eid aus dem Jahr 1345, „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt“.

Wieder bezogen Stadtarchiv und Stadtbibliothek das Schwörhaus, nunmehr als einzige Nutzer. Und als die Stadtbibliothek im Jahr 2004 in ihr neues gläsernes Domizil unter Gottfried Böhms Pyramidendach übersiedelte, konnte der Umbau des Schwörhauses zu einem „Haus der Stadtgeschichte Ulm“ beginnen. Dieses bietet heute in seinen oberen Etagen die adäquaten und benutzerfreundlichen Räumlichkeiten, um die selten reichhaltigen Bestände des Ulmer Stadtarchivs zu erforschen.

Im Gewölbe aber präsentiert die Stadt ihren wechselvollen Werdegang vor der eindrucksvollen Kulisse der staufischen Quadermauer: Es gibt wohl keinen Ort in Ulm, der einen so direkten Bezug hat zur Stadt und ihrer Verfassung – im doppelten Sinne des Wortes –, und der so viel Geschichte nicht nur beherbergt, sondern auch atmet wie das Schwörhaus.

Text: Wolf-Henning Petershagen