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Der Neue Bau

Luftbild einer Gebäudeanlage aus roten Steinwänden mit roten Dächern und Dachgiebeln. Es gibt einen Innenhof, in dem Autos parken. Drum herum verlaufen die Gebäudeflügel, die in ungleichmäßigen Winkeln aufeinander treffen.

© Stadtarchiv Ulm

Der Neue Bau ist, wie auf den ersten Blick erkennbar, ein alter Bau, Ende des 16. Jahrhunderts aus unscheinbarem Sichtbackstein errichtet. Sein wahres Format offenbart er, wenn man vom Münsterturm auf ihn herabschaut, und seine architektonischen Reize zeigen sich erst, wenn man seinen Innenhof betreten hat.

Vor dem Schritt in den Neuen Bau hinein zögern manche etwas, denn er ist der Sitz der Polizeidirektion Ulm, deren reichsstädtische Vorgängerbehörde, die Einung, hier auch schon ein Ausweichquartier hatte. Doch die Zeiten, da in jenem Innenhof standrechtliche Erschießungen stattgefunden haben, sind längst vorbei.

Wozu haben die Ulmer ein solch kolossales Gebäude gebaut? Ulm war eine freie Reichsstadt. Sie schützte ihre Bürger nicht nur mit Mauern, sondern auch mit Vorratslagern für Krisenfälle. In diesen Speicherbauten wurde unter anderem Getreide gehortet, das in Notzeiten zu billigen Preisen an die Bevölkerung abgegeben wurde. Man erkennt diese Vorratslager an ihren Gaubenfenstern, die in mehreren Reihen übereinander die Dächer entlanglaufen. Sie dienten der Belüftung des Korns, das auf den übereinander liegenden Fruchtböden gelagert war. Der Neue Bau war ein solcher Stadelbau. Doch wurden dort, einem Ratsprotokoll vom Juli 1592 zufolge, auch die Geschütze, Kugeln und Rüstwägen des Schwäbischen Kreises untergebracht.

An den Jahreszahlen, die über den verschiedenen Portalen zu sehen sind, ist die Bauzeit abzulesen. Sie dauerte fast ein Jahrzehnt, von 1584 bis 1593. Seine Grundfläche beläuft sich auf etwa 2700 Quadratmeter, wovon allein der Innenhof 900 beansprucht.

Natürlich hatte eine solche Fläche mitten in der Stadt zuvor nicht brachgelegen. Von den Vorgängerbauten, die der Rat gekauft hat und dann niederlegen ließ, war der prominenteste der sogenannte Strölinhof, benannt nach der Patrizierfamilie Strölin, die schon 1253 in Ulm nachzuweisen ist. Die habe an einer Ecke über der Blau „nach der Sitte des Adels“ eine Burg mit dicken Mauern gebaut, so berichtet 1488/89 der Chronist Felix Fabri. Das könne man, so fügt er hinzu, bei genauem Hinweis noch immer sehen. Fabri überliefert auch eine Ortssage, der zufolge ein früher Bewohner jener Burg mit einem benachbarten Adeligen im Zwist lag. Die beiden hätten sich gegenseitig „mit Wurfspießen von Haus zu Haus beschossen“.


Wichtiger aber ist seine Mitteilung, dass die Ulmer Bürger in einem Teil jenes Strölinschen Anwesens „einen Hof für den Kaiser“ machten, „der bis heute der Kaiserhof oder Königshof genannt wird“. Dort pflegten die Herrscher des Reiches zu wohnen, wenn sie nach Ulm kamen, und dort pflegten die Bürger ihnen bei diesen Gelegenheiten zu huldigen. Erst 1473 wurde diese Zeremonie auf den Markt vor dem Rathaus verlegt.

Der Strölinhof ist auch Schauplatz einer der blutigsten Ulmer Sagen. Am St. Bonifazius-Tag (5. Juni) 1311 wollten die Ulmer Zunftmeister nach altem Brauch im Strölinhof dem Bürgermeister schwören. Doch der ließ sie wegen eines vorausgegangenen Zwistes durch ein Türchen in einen Raum locken, wo einer nach dem anderen enthauptet wurde. Das Blut reichte bis zum Knöchel und floss den Weinhofberg hinunter in die Blau, die sich darob rot färbte. Diese Sage, die in der Zeit der Machtkämpfe zwischen Zünften und Patriziat spielt, könnte einen wahren Kern haben.

Der Königshof lag nicht zufällig hier. Diese Stelle war die nördlichste Ecke der Pfalz, die im Westen und im Süden von der Blau begrenzt wurde. Die 854 erstmals erwähnte Königspfalz war der Kern, aus dem sich Ulm entwickelt hat. Ihre Befestigung, ein doppelter Spitzgraben, verlief unmittelbar nördlich des Neuen Baus und wurde Ende der 1980er-Jahre bei archäologischen Grabungen freigelegt.

Im Innenhof des Neuen Baus steht auf einer Säule inmitten des dortigen Brunnens Hildegard, die Frau Karls des Großen. Dieser Brunnen, den der Steinmetz Carl Bauhofer 1591 geschaffen hat, ist zusammen mit dem Neuen Bau entstanden. Die Figur der Hildegard soll vermutlich daran erinnern, dass hier der Königshof war. Denn sie stammte mütterlicherseits von den alemannischen Herzögen ab, und der Franke Karl hat die damals 13-jährige geheiratet, um damit den alemannischen Adel auf seine Seite zu bringen. Sie hat demnach gewissermaßen Ulm als Mitgift in die Ehe eingebracht, bevor sie neun Kindern das Leben schenkte und mit 26 Jahren starb.

Vogelperspektive auf den Neuen Bau, das in unmittelbarer Nähe stehende Stadthaus und die umliegenden Straßen.

© Stadtarchiv Ulm

Blick vom Ulmer Münster hinab auf das weiße Stadthaus und den Neuen Bau

Der Neue Bau liegt also auf ältestem Ulmer Boden, aber das Gebäude erinnert an eine spätere Phase der Ulmer Geschichte, als die Reichsstadt seit 1648 Tagungsort des Schwäbischen Reichskreises war. Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts eingerichteten Reichskreise dienten der Sicherung des Landfriedens. Wenn die Kreisdeputierten sich in Ulm trafen, tagten sie im Rathaus. In diesen Fällen hielt der Ulmer Rat seine Sitzungen im Neuen Bau.

Diese Sitzungen fanden statt in der „Reichen Stube“, einem prunkvollen, holzgetäferten Renaissanceraum im ersten Stock des Südflügels. Als der Neue Bau 1924 bei einer Brandkatastrophe zu einem großen Teil zerstört wurde, konnte die Feuerwehr diese Stube retten. Allerdings wurde beim Wiederaufbau die Deckenkonstruktion geändert, so dass der Holztäfer nicht mehr passte. Er wurde daher zunächst dem Museum geschenkt, jedoch 1938 wieder in einen Raum des Neuen Baus eingepasst, der in der Nazizeit als Offizierskasino diente. Heute ist dies das Konferenzzimmer der Polizeidirektion.

Doch zurück in die Reichsstadtzeit und zur damaligen Nutzung des Gebäudes. In seiner 1786 erschienenen Beschreibung Ulms notiert Johann Herkules Haid: „Der untere Stock bestehet aus Gewölben, die alle auf Säulen ruhen, und welche zu Salz und Waarenlagern, und besonders zu Weinkellern gebraucht werden. Vorzüglich ist hiezu das Gewölbe gegen Abend, in welchem eine große Menge der größten Fässer Platz haben. [...] Das mittlere Stockwerk hat auf der Seite gegen Mittag die schöne Rathstube mit einem geräumigen Vorsaale, oder wie bey uns die Benennung gewöhnlich ist, Rathslaube. Auf eben dieser Seite sind andere kleinere Zimmer, die vergittert sind, und daher manchmal zu Staatsgefängnissen gebraucht werden. Und in eben diesem Stocke sind verschiedene Kammern, worinnen ein großer Theil der Herrschaftspfleg- und Steueramtlichen Registratur, welche auf der Herrschaftsstube oder auf dem Steuerhause nicht mehr Platz hat, aufbewahrt wird.


Auf der Mitternacht-Seite ist in diesem Stocke die Amtsstube des Proviantschreibers. Die beiden anderen Seiten, und der obere Theil des ganzen Gebäudes ist mit Fruchtböden versehen, auf welchen eine große Menge Früchten, die dem gemeinen Wesen gehören, aufgeschüttet und aufbewahret werden. Es ist also dieses Gebäude nun vornehmlich ein Magazinhaus der Stadt zu Früchten und Salz.“


Der bekannteste Gefangene, dem dieses Gefängnis als Todeszelle diente, war der Ulmer Altbürgermeister Harsdörfer, der damals 51 Jahre alt war. Er hatte am 11. Februar 1738 seinen Amtsnachfolger, den 64-jährigen Bürgermeister v. Besserer, im Rathaus erschossen. Anschließend stellte er sich den Behörden. Die Befragung ergab, dass Harsdörfer das war, was man heute ein „Mobbingopfer“ nennen würde: Sein Kollege hatte zehn Jahre lang verspottet und gekränkt, wobei permanente Anspielungen auf das Sechste Gebot (Du sollst nicht ehebrechen!) eine Rolle gespielt haben sollen.

Das Urteil lautete zunächst auf Abhauen der rechten Hand und anschließende Hinrichtung mit dem Schwert. Es wurde jedoch abgemildert in die ehrenvollere Erschießung. Am 30. April 1738 um 6 Uhr schritt Harsdörfer den Treppenturm hinab in den Hof des Neuen Baus, nahm in einem Lehnsessel Platz und verband sich die Augen. Vier Grenadiere gaben Feuer. Harsdörfer war sofort tot.

Ein anderer Häftling fügte sich nicht so willig in sein Schicksal, sondern floh aus seinem Gefängnis im Neuen Bau: der preußische Werbeoffizier Heyden. Der hatte 1754 in Ulm Soldaten für den Preußenkönig Friedrich anwerben sollen. Er entführte einen durchreisenden Studenten, den er in eine Kutsche zerrte, knebelte und unter einem Mantel versteckte. Das Opfer erstickte und wurde verscharrt. Doch die Tat kam auf, Heyden wurde in den Neuen Bau gesperrt. Allerdings führte sein Prozess zu diplomatischen Verwicklungen zwischen Preußen und Österreich, und eines Tages war der Käfig im Neuen Bau, worin der Häftling gesessen hatte, leer. Vielleicht hat ein Ulmer bei der Flucht ein wenig nachgeholfen, denn für den Ulmer Rat war die Flucht Heydens sicher der einfachste Weg aus der politischen Bredouille.

In seiner Beschreibung des Neuen Baus erinnert Haid an eine Nutzung des Innenhofes als Schauplatz grausiger Spektakel: „In diesem Hofe wurden meistens, wie es noch gewöhnlich war, Bären-, Stier- und andere Hatzen zu halten, diese blutigen Schauspiele aufgeführt.“ Daneben waren hier friedlichere Zirkusszenen zu sehen: „Auch Luftspringer und Seiltänzer zeigen sich manchmal in demselben (Hof).“

Auch nach dem Ende der Reichsstadt 1802, als Ulm dem Kurfürstentum Bayern zugeschlagen war, tagte der Ulmer Rat im Neuen Bau, denn ins Rathaus war nun die Landesdirektion eingezogen. Der Neue Bau wurde Sitz des Kameralamtes, wie das staatliche Liegenschaftsamt damals hieß. Daran änderte sich auch nichts, als Ulm 1810 württembergisch geworden war. Und das ehemalige städtische Fruchtmagazin im oberen Teil des Gebäudes war nunmehr königliches Fruchtmagazin. Nachdem 1853 die „Gräth“ abgebrannt war, in welcher das königliche Hauptzollamt saß, zog auch dieses in den Neuen Bau. Und der „große Stadel“, der alte Kornspeicher, diente militärischen Zwecken.

Der Neue Bau blieb eine Art Behördenzentrale. Aus dem Kameralamt wurde das Staatsrentamt, und zum Hauptzollamt kamen das Feldbereinigungsamt und das Kulturbauamt hinzu.
Vermutlich hat ein Eimer, der in einem der Zimmer jenes Amtes abgestellt war, noch heiße Asche enthalten, die den verheerenden Brand des Neuen Baus am 19. Februar 1924 verursacht hat. Die Feuerwehr pumpte bei klirrender Kälte innerhalb von sechs Stunden fünf Millionen Liter Löschwasser ins Feuer und verhinderte die völlige Zerstörung des Bauwerks. Überdies gelang es ihr, die prächtige alte Ratsstube zu retten, in der danach die Eiszapfen von der holzgetäferten Decke hingen.

Gute zwei Wochen nach dem Brand lagen bereits die Pläne für den Wiederaufbau und die künftige Nutzung vor. Darin war auch vorgesehen, dass die Württembergische Polizeidirektion einziehen sollte, was sie dann auch tat – mitsamt ihren Diensthunden, die im Untergeschoss einquartiert wurden. Von Oktober 1938 an war die Polizeidirektion alleinige Nutzerin des Neuen Baus.

Die Bomben, die am 17. Dezember 1944 den größten Teil der Ulmer Altstadt in Trümmer legte, richteten auch am Neuen Bau schweren Schaden an. Und als ein Vierteljahr später die Amerikaner einmarschierten, hatte der damalige Polizeidirektor die Wahnsinnsidee, den Neuen Bau von Polizeibeamten verteidigen zu lassen. Doch die zogen es vor, die weiße Fahne zu hissen – zumal ihr heldenhafter Polzeidirektor zusammen mit den anderen lokalen Nazi-Größen bereits geflohen war.

Wieder wurde der Neue Bau repariert, wieder zogen alle möglichen obdachlosen Ämter ein, wieder war es die Polizeidirektion, die auf Dauer dort blieb. Und deshalb sind die Besucher seines Innenhofes die vermutlich bestüberwachten und -geschützten Touristen in der Stadt, begleitet von diskreten Kameras, die über den Toren installiert sind.


Bleibt noch die Frage, warum dieses alte Gemäuer „Neuer Bau“ heißt. Eine offizielle Begründung dafür haben die Erbauer nirgends hinterlassen. In den Ratsprotokollen wurde er schon während seiner Entstehung teils als „Bau am Lautenberg“, teils als „eines Ehrsamen Rats Neuerbau“ bezeichnet. Vielleicht war es seine Dimension, derentwegen dieser Komplex nicht, wie andere Magazinhäuser, „Stadel“, sondern „Bau“ genannt wurde. Das „Neu“ wurde – wie übrigens auch in anderen Städten, etwa Stuttgart oder Schwäbisch Hall – Teil des Eigennamens, über den sich auch dann niemand mehr Gedanken machte, als der Bau in die Jahre gekommen war.

Text: Henning Petershagen

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