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Pauline B.

Wenn man sich die Geschichte von Pauline B. (Name von der Redaktion geändert) durchliest, so hat man das Gefühl, man lese eine Kriminalgeschichte oder einen Psychothriller. Pauline ist 39 Jahre alt, war Versicherungskauffrau in ihrem Heimatland Kamerun. Sie musste flüchten, und weiß bis heute nicht wirklich, warum. Sie weiß nicht, ob eine Rückkehr in ihre Heimat möglich ist, da möglichweise ihr Leben dort in Gefahr ist.

Wie bist du nach Deutschland gekommen?
Pauline B.: Ich bin 2015 nach Deutschland gekommen. Es begann alles in meiner Heimat. Ich kann nicht zwischen der richtigen Polizei und der „Fake-Polizei“ unterscheiden, die die gleichen Uniformen tragen. Jedenfalls besuchten mich eines Tages Männer in Polizeiuniformen. Ich arbeitete zu dieser Zeit auf meinem Feld. Tage vorher war eine Person tot in meiner Nachbarschaft aufgefunden worden. Niemand wusste, wer sie getötet hatte. Die Polizei waren auf der Suche nach dem Täter und der Tatwaffe und fragte mich danach. Ich habe ihnen erklärt, dass ich Waffen nur aus dem Fernseher kenne und keine besitze. Sie wollten meine Hütte durchsuchen, ich stimmte sofort zu, denn ich hatte ja nichts zu befürchten. Plötzlich fanden sie eine Waffe in meiner Hütte und ich konnte mir nicht erklären, wo diese herkam. Ich vermute, sie haben die Waffe selbst dort positioniert, um mir diese zuzuweisen. Daraufhin haben sie mich niedergeschlagen, ich konnte mich nicht wehren. Ich wurde ohnmächtig und bin später in einem dunklen Raum aufgewacht. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, wie ich dorthin gekommen bin und warum das alles passierte. Ich hörte manchmal, wie sich Männer unterhielten. Aber ich selbst konnte nicht sprechen, mein gesamtes Gesicht war angeschwollen. Ich will mich nicht mehr an alles erinnern, denn ich habe Schreckliches erlebt.

Wie ging es dann weiter?
Pauline B.: Ich habe getan, was die Männer wollten. Ich musste das Land verlassen und jemand hat mich nach Nigeria begleitet. Dadurch, dass ich lange vorher in einem dunklen Raum untergebracht war, hatte ich überhaupt kein Gefühl von Raum und Zeit. Als ich in Nigeria gelandet bin, brachte mich ein Taxi in ein Hotel. Ich konnte nicht sprechen, mein Gesicht war total geschwollen. Meine Kleidung war schmutzig, ich hatte nichts Persönliches von mir dabei. Nach Tagen kamen ein paar Männer vorbei und gaben mir einen Reisepass. Meine nächste Station sollte die Türkei sein. Ich hatte kein Geld, aber mir wurde das Flugticket gegeben. Ich vermute, es war eine Organisation, die mich aus dem Land geschafft hat. Als ich in der Türkei gelandet bin, war ich ganz alleine. Ich kannte niemanden und hatte nichts. Ich musste um Geld betteln, um meinen Hunger und Durst zu stillen. Es war zu dieser Zeit Winter und dieser ist in der Türkei sehr kalt und hart. Ich trug nur die Kleidung, die ich in Kamerun bereits trug. Es war feucht und die Kälte zog in die Knochen. Irgendwann traf ich eine Frau, die mich aus Mitleid aufnahm und sich um mich kümmerte. Sie selbst bereitete alles vor, um in wenigen Monaten nach Frankreich zu gehen. Sie hat mir eine Arbeit besorgt und ich konnte bei ihr wohnen. Alleine hätte ich dort nicht wohnen können, da ich keine Papiere hatte. So bin ich mit ihr nach vier Monaten insgesamt zwei Monate lang von der Türkei nach Griechenland, von dort nach Mazedonien, Serbien und Ungarn zu Fuß nach Österreich gelaufen. Von dort bin ich mit dem Zug nach Deutschland, München gefahren.

Hattest du das Gefühl, dass die Männer, die dich zum Flughafen brachten, dir helfen wollten?

Pauline B.: Ich vermute, sie wollten mir helfen. Sie haben alles bezahlt. Wäre ich in Kamerun geblieben, dann wäre ich jetzt tot.

Welches Gefühl hattest du, als du in München angekommen bist?
Pauline B.: Ich wollte nach den schrecklichen Erlebnissen nur ein ruhiges, normales Leben führen - ganz ohne Probleme. Wenn ich weiter nach Frankreich gegangen wäre, dann wäre es für mich wegen der Integration leichter gewesen, denn dort leben viele Menschen aus Afrika. Aber ich denke, dass meine Möglichkeiten in Deutschland besser sind. Mir war klar, dass ich noch mal die Schule besuchen muss. Aber mein Vater, der früh gestorben ist, sagte mal zu mir: "Wenn man was will, dann kann man alles erreichen." Dieser Satz hat mich sehr oft motiviert, mein Leben in die Hand zu nehmen. Außerdem war ich schon sehr früh selbstständig, denn das ist man in Kamerun sehr schnell. Dadurch, dass mein Vater früh verstarb, mussten wir alle schauen, dass wir klarkamen und entsprechend arbeiten. Mit meiner weiteren Schwester haben wir insgesamt 8 Kinder und wir mussten uns somit um insgesamt 11 Personen (inklusive uns und meine Mutter) kümmern und diese versorgen - das hatte höchste Priorität.

Wie hilfst du deiner Familie nun von Deutschland aus?
Pauline B.: Mein Gehalt ist nicht sehr hoch. Aber ich lasse immer meiner Familie Geld zukommen.

Was ist mit deiner Familie in Kamerun?
Pauline B.: In meiner Heimat leben noch mein Sohn (21) und meine Nichte (18) - sie ist die Tochter meiner Schwester, die verstorben ist und für mich ist sie nun meine Tochter. Außerdem habe ich noch meine Mutter, die über 80 Jahre alt ist. Sie liegt aktuell im Krankenhaus und es geht ihr gesundheitlich nicht gut. Meine Kinder sind mit Fragen bombardiert worden, wo ich bin. Sie wurden in andere Städte geschickt, um in Ruhe leben zu können. Mein Sohn hat in 5 Jahren 7 Mal zu seiner Sicherheit die Schule gewechselt. Meine Tochter ist eines Tages schwanger nach Hause gekommen. Sie erzählt nichts. Spricht man sie darauf an, weint sie sofort. Wir wissen nicht, was passiert ist.

Wie hast du dir hier ein neues Leben aufgebaut?

Pauline B.: Ich habe kürzlich meine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen.

Kannst du nie wieder zurück in deine Heimat?
Pauline B.: Nein, das ist für mich lebensgefährlich. Ich möchte sehr gerne wieder hin, meine Mutter macht mir Sorgen und ich weiß nicht, ob und wann ich sie je wiedersehen kann.

Wie gehst du mit dieser Situation um, ohne deine Familie und ohne Aussicht auf ein Wiedersehen?
Pauline B.: Das ist wirklich schwer [Stimme zittert]. Ich war schon so lange nicht mehr zuhause, ich kann nur die Zeit von der Türkei nach Deutschland rechnen, ich habe meine Mutter und meine Kinder seit meiner Flucht nicht mehr gesehen, das ist sehr schwer für mich [weint].

Wie hast du versucht, dich zu integrieren?
Pauline B.: Ich habe hier niemanden. Mein Tagesablauf ist immer der gleiche: Ich gehe zur Schule und bin danach zuhause. Auch bin ich noch nie ausgegangen, es fällt mir sehr schwer, Kontakte zu knüpfen. Mal sehen, was sich entwickelt.

Denkst du, dass du in Ulm bleiben wirst?

Pauline B.: Ich war schon wegen der Schule und der Botschaft in anderen Städten zu Besuch, aber ich finde Ulm viel besser. Es ist bestimmt auch ein Stück Gewohnheit. Ich war mal zwei Monate in München, das Leben ist dort sehr teuer. Aber hier habe ich bessere Möglichkeiten zu arbeiten. Ich fühle mich sehr wohl in Ulm, mir fehlt nur meine Familie. Ich mag Ulm und Baden-Württemberg. Hier möchte ich unbeschwert leben und will keine Probleme machen.

Hast du noch Kontakt zu der Frau, die dich nach Deutschland gebracht hat? Was ist das für eine Frau, die dir geholfen hat?

Pauline B.: Ja, ich habe noch Kontakt zu ihr. Sie ist drei Jahre älter als ich und sie hat mir einfach spontan geholfen. Sie hat nicht weggeschaut, sondern mir eine Chance gegeben.

Was war das Schönste, was du erlebt hast, als du in Deutschland angekommen bist? Worauf hast du dich am meisten gefreut?
Pauline B.: Das Bett! Jemand, der nie geflüchtet ist, kann das nicht verstehen, was Geflüchtete hinter sich haben. Ich hatte vom Laufen fast keine Zehen mehr. Meine Periode habe ich in einem Monat drei Mal bekommen. Während einer Flucht die Periode zu bekommen, ist eine große Herausforderung. Wir mussten ununterbrochen laufen und durften nicht stehen bleiben. Auch hatten wir natürlich keine Hygieneartikel, sondern nur Laub im Wald. Außerdem konnten wir uns lange nicht waschen, es gab kein Wasser. Bleibt man nicht in der Gruppe und verliert sich, ist man verloren. Dann besteht die Gefahr, dass man gekidnappt wird - es ist sehr gefährlich. In meiner Geflüchteten-Gruppe gab es zwei Schwangere, die während des Laufens eine Fehlgeburt erlitten hatten. Zeit für Trauer gab es nicht, sie mussten weiterlaufen, als sei nichts gewesen. Manchmal gab es etwas zum Essen, aber wir konnten nur schnell etwas zu uns nehmen, denn es ging immer weiter.

Wenn du drei Wünsche frei hättest, welche wären das?
Pauline B.: Als erstes möchte ich meine Kinder bei mir haben. Dann möchte ich gerne meine Heimat besuchen und dort meine Mutter endlich wiedersehen. Am liebsten hätte ich hier ein eigenes Haus mit meiner ganzen Familie. Wenn sich das erfüllen würde, wäre das für mich der absolute VIP-Bereich. Mein größter Wunsch ist es einfach, meine Kinder, meine Familie bei mir zu haben.

Kamerun galt lange als stabiles Land in Afrika. Das Land ist in frankophone (französischsprachig geprägte) Territorien und anglophone (englischsprachig geprägte) Territorien aufgeteilt. Der frankophone Teil des Landes ist der größte Teil, die englische Minderheit fühlt sich seit Jahren benachteiligt: Der Entwicklungsstand (wie z. B. die Infrastruktur) der anglophonen Regionen ist im Vergleich zu den frankophonen Teil sehr schlecht. Auch der Gewinn des Erdölvorkommens an der Küste der Südwestregion ging hauptsächlich an die Zentralregierung und an den frankophonen Teil. In den englischsprachigen Regionen sind diese Menschen im Parlament, in der Regierung und Verwaltung sowie an der Uni deutlich unterrepräsentiert. U. a. sorgten diese Ungleichgewichte für große Unzufriedenheit der anglophonen Bevölkerung.

Im Jahre 2016 eskalierte die Situation, die zunächst mit Protesten begann: Französischsprachige Richter*innen und Lehrkräfte wurden in die anglophonen Regionen entsandt. Die Regierung bzw. der Präsident Paul Biyas wollte das gesamte Land frankophonisieren. Es sollte so schrittweise das britisch geprägte Rechts- und Bildungssystem durch das französische ersetzt werden. Da beide Teile jeweils unterschiedliche Rechtssysteme haben, ist das eine große Herausforderung für Gesamt-Kamerun, was auch eine Ursache des Konflikts ist. Dagegen protestierten die anglophonen Lehrer- und Juristenverbände. Die Regierung geht gegen die Protestierenden gewaltsam und brutal vor. Die anglophonen Separatisten riefen ihren eigenen Staat aus mit dem Namen „Ambazonien“. Die Gewalt hält seitdem an.

Seit 2019 haben Terroranschläge zugenommen. Es wird geschätzt, dass seit Beginn des Konflikts 680.000 Menschen auf der Flucht seien. Die humanitäre Lage in den englischsprachigen Gebieten ist sehr schlecht. Insbesondere Kinder und Jugendliche bekommen dies zu spüren: Regelmäßig werden Lehrkräfte und Schüler*innen von bewaffneten Gruppen angegriffen, entführt, bedroht und getötet. Nach wie vor herrscht in Kamerun große Unzufriedenheit über die anhaltende Armut, soziale Ungerechtigkeit, Konflikte und Arbeitslosigkeit.